Ja, die Zeiten sind nicht leicht. Die Pandemie macht uns zu schaffen. Die Einschränkungen, die wir auf uns nehmen müssen, verunsichern. Viele sind genervt, ratlos oder erschöpft, wütend oder zerrissen.

Meine Mutter ist in Danzig geboren. Als sie 12 Jahre alt war, im März 1945, floh sie mit ihrer Mutter, meiner Großmutter, und sechs ihrer sieben Geschwister über die Ostsee nach Dänemark.

Nach dem Tod meiner Großmutter fand sich in deren Notizen ein Eintrag vom März 1957.

„Nach Einfall der Russen flüchtete ich aufs Schiff, das uns nach Dänemark brachte. Uns umschloss nach der Kapitulation ein Stacheldraht, d.h., wir waren interniert. Unser Lager, in dem 2000 Mütter und Kinder lebten, lag mitten in der Heide Mitteljütlands. Zuerst glaubten wir diesen Zustand der Abgeschlossenheit nicht ertragen zu können, wir murrten, wir lehnten uns auf gegen unsern Gott, wir glaubten, er habe uns verlassen.

Doch allmählich wurden wir stiller und nachdem Wochen und Monate vergangen waren, fanden wir dort inmitten der Heide, abgeschlossen von aller Außenwelt eine Quelle, es entsprang für uns die Quelle des Dankens. Wir lernten danken für die kleinste Gabe. Wir lernten dankbar werden für alles, was wir in der Heimat für selbstverständlich hingenommen hatten. Wir lernten danken für ein Stück Brot aus tiefstem Herzen, wenn das strahlende Lachen eines Kleinkindes den trüben Barackenraum erhellte und gaben zu, dass wir zu Hause oft unser Tischgebet nur mit den Lippen gesprochen hatten.

Ich erinnere mich z.B. an einen Frühlingstag, dass mehrere Mütter zusammengedrängt standen. Ich trat hinzu. Was suchten sie dort? Sie schauten angestrengt auf die Erde, da sie die fast unscheinbare Blüte einer Preißelbeere entdeckt hatten, die sich durch den hartgetretenen Heideboden zwängte.

Wir konnten uns an diesem Wunder der Schöpfung kaum sattsehen. Es war die erste und einzige Blüte.

In der langen Zeit der Abgeschiedenheit von der Außenwelt spürten wir oft die richtenden sowie die aufrichtenden Hände unseres Herrn und wie oft durften wir unsere schwachen Arme ausstrecken nach seinen helfenden segnenden Händen, wenn wir zu sinken drohten.

Fast allabendlich machten wir Mütter einen Gang von 20 min durchs Lager, ehe wir uns zur Ruhe begaben. Bei diesen Spaziergängen schauten wir oft nach oben, nach dem Abendhimmel, nach dem nordischen Himmel. Uns schien er anfangs besonders schön zu sein in seinen Farben, die abgetönt waren vom zartesten rosa bis zum tiefsten Violett, oder kam uns Müttern dieser Himmel nur so besonders schön vor, da wir uns von der eingezäunten Tiefe hinauf gezogen fühlten in eine unbegrenzte Freiheit. Wir gestanden uns immer mehr ein, dass wir uns in der Heimat nicht soviel Zeit gelassen haben, unsere Blicke auf himmlische Dinge zu richten.

Bei unsern abendlichen Rundgängen ums Lager lauschten wir besonders am Weihnachtsfest, ob nicht ein Laut der Außenwelt, der Klang einer Glocke, zu erhaschen wäre.

Als wir heimkehren durften nach Deutschland, wussten wir, dass der geistige Besitz, den wir hier in der Abgeschlossenheit von aller Außenwelt empfangen haben, weit größer war als alle irdischen Güter in der alten Heimat.“

Soweit der Eintrag meiner Großmutter.

Mich beeindruckt die Dankbarkeit meiner Großmutter, obwohl die Zeiten viel schwerer waren, als unsere heute und die Einschränkungen nicht zu vergleichen.

Wenn alles, was wir erdulden müssen, um unser Leben, vor allem aber das unserer Nächsten, zu schützen, heißt, für eine gewisse Zeit auf Familienfeste, und Zusammenkünfte zu verzichten, Abstand zu halten und im öffentlichen Raum eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen, ist das auszuhalten.

Wir können dankbar sein:
Für Essen und Trinken, für die Farben des Herbstes, für die Möglichkeiten von Telefon, Fernsehen und digitalen Medien, für unser Gesundheitssystem, für Frieden in unserem Land.
Auch den sozialen Frieden zu erhalten ist eine Aufgabe für uns alle.

Und ja, wir werden Advent und Weihnachten feiern können. Sicher anders als sonst. Aber vielleicht gibt uns das auch die Chance, das Weihnachtsfest neu zu entdecken. Tiefer hineinzusteigen in dessen eigentliche Bedeutung: Christus für uns geboren. Gott sei Dank!

Seien Sie behütet!
Ihre
Friederike
Wagner
Dekanin des Kirchenbezirks Crailsheim